Der Schnee ist geschmolzen, die Sonne scheint fast rund um die Uhr auf den Waldboden und wärmt die Erde. Die perfekte Zeit für einen Pilz, der im Gegensatz zu den meisten Pilzen nicht im Herbst aus dem Boden wachsen. Es ist die Zeit der Frühjahrslorchel, finnisch Korvasieni – Ohrenpilz.
Warum erwähne ich gerade diesen Pilz?
Nicht, dass er so schön oder so gesund wäre, dass er diesen Artikel verdient hätte.
Was macht die Frühjahrslorchel aus?
Sie ist hochgiftig. Also so richtig hochgiftig.
In deutschen Pilzbüchern findest Du unter ihrem Bild Warnsätze wie „Nicht essen! Nicht anfassen! Nicht anschauen! Wegrennen!“
In finnischen Pilzbüchern ist das ein bisschen anders … es folgt ein Auszug aus dem Buch Das kuriose Finnlandbuch: Was Reiseführer verschweigen* von Bernd Gieseking:
(…)
„Was ist das beste Rezept für giftige Pilze?
Der Finne ist verrückt nach Pilzen. Einen liebt er besonders: korvasieni. Die Frühjahrs-Giftlorchel, lateinisch Gyromitra esculenta. Der Pilzhut ähnelt Gehirnwindungen, darunter ein in Relation schmaler Stiel, braun bis rötlich gefärbt. Es kann zu Verwechslungen kommen mit der Speisemorchel (Morchella esculenta), deren Hut durch Quer- und Längsleisten geometrischer gestaltet wirkt als die gewundene „Hirnrinde“ des korvasieni. Frisch geerntet ist dieser Pilz nur etwa vier bis sechs Wochen im Jahr auf den Märkten erhältlich, im April und Mai.
Pirkkos Mann Günter zeigte mir zwei Pilzbestimmungsbücher, ein finnisches, ein deutsches. Falls „kurios“ eine Steigerung hat, wäre diese Form hier angemessen: im deutschen Pilzbestimmungsbuch steht: „Frühjahrslorchel. Tödlich giftig! Nicht anfassen!“ Im finnischen Pilzbestimmungsbuch steht: „Frühjahrslorchel. Tödlich giftig! Und hier sind die Rezepte!“
Die Finnen mögen diesen Pilz besonders gerne in Soße mit Steak, sehr lecker auch zu Rentierzunge oder auch nur mit Kartoffeln. Ich wollte mehr wissen und fragte meine Freunde. Wenn man den Pilz kocht, müssen die Fenster weit geöffnet sein, am besten ist eine Außenküche, denn allein schon der Dampf ist giftig und sollte nicht eingeatmet werden. Irma aus Lahti rät, den Pilz ordentlich zu bürsten, da in seinen Lamellen reichlich Sand sitzt. Aber sie fasst den Pilz an und sagt, zweimal kochen würde reichen. Raili aus Sulkava sagt, das stimme zwar, aber sie gehe lieber auf Nummer sicher und kocht ihn viermal zehn Minuten lang. Sie stammt aus Karelien und sei sehr erfahren mit diesem Pilz, sagt Pirkko. Wichtig ist, wenn man ihn selber zubereitet, dass man das Kochwasser anschließend jeweils wegschüttet. Pirkko rät, die Pilze zwischendurch gut kalt zu wässern und vor dem nächsten Kochen jeweils ordentlich auszudrücken. Was vorher tödlich giftig war, wird dann zu einer Delikatesse.
Falsch zubereiten sei der Pilz innerhalb von 24 Stunden tödlich, erzählt mir Pirkko. Vor einigen Jahren war sie mit ihrem Mann, Tochter und Schwiegersohn bei den Nachbarn, bei Raili und ihrem Mann, zum Essen eingeladen. Es schmeckte köstlich. Zu Hause schlugen Mann und Schwiegersohn den Pilz nach und erschraken. Ehemann Günter wurde regelrecht leichenblass. „Du musst sofort Raili anrufen und fragen, ob sie die Pilze auch richtig zubereitet haben“, sagte er zu seiner Frau.
Die, ganz Finnin, antwortete: „Ich werde doch Raili, die das ihr Leben lang schon macht, nicht fragen!“
„Und wenn wir sterben?“
„Werden wir nicht!“
„Sicher?“
„Voraussichtlich! Und wenn – dann könnten wir jetzt auch nichts mehr machen!“
Mit flauem Gefühl ging der deutsche Teil der Familie am nächsten Tag mit in die Oper und schaute immer wieder zur Uhr. Man hatte am Vortag bis 22 Uhr gespeist. Nach dem Ende der Vorstellung, 24 Stunden später, spendierte Günter allen vieren einen Sekt aufs Überleben.
Der eigentliche Giftstoff in diesem Pilz ist Monomethylhydrazin. Das wurde über einen Umweg entdeckt, nämlich in der Raketenforschung. Dort kam es bei den Beschäftigten zu rätselhaften Krankheiten, als deren Verursacher man schließlich den Treibstoff Monomethylhydrazin erkannte. Das Gyromitrin der Pilze wird durch Magensäure zu Monomethylhydrazin umgewandelt. Bei falscher Zubereitung sind schwere Vergiftungen nicht selten, insbesondere in Osteuropa. (…)
- 212-215, Das kuriose Finnlandbuch: Was Reiseführer verschweigen* von Bernd Gieseking